**** Achtung! Dieser Text enthält eventuell retraumatisierende Inhalte. ****
Sobald ich mit ihm bewusst in Kontakt trete, wird es eng in meiner Brust. Die Kehle ist wie zugeschnürt. Kalte Schauer laufen den Rücken hinab bis in die Beine. Mein Herzschlag erhöht sich schlagartig. Kälte hüllt mich ein. Ich zittere, spüre den Impuls, weglaufen zu wollen, fühle mich jedoch wie gelähmt. Übelkeit steigt in mir hoch und in meinem Kopf wächst der Druck. Die Umgebung bekommt unscharfe Konturen … Und dann – irgendwann – ist nur noch Stille in mir.
Und wieder einmal bin ich innerlich ausgestiegen. Abgetaucht. Wieder einmal habe ich gegen den Automatismus verloren, der mich vor dem Hinschauen schützen möchte.
Mein Körper stellt mich vor eine scheinbar unüberwindbare Herausforderung. In bestimmten Situationen führt er ein unangenehmes Eigenleben und ich spüre – auch heute noch – den Impuls in mir, ihn für seine Signale und Reaktionen bestrafen zu wollen.
Ich habe ihn Jahrzehnte lang bekämpft, habe ihm Nahrung und Wasser verweigert, ihm äußere und innere Verletzungen zugefügt. Ich habe ihn verachtet, mit Nichtbeachtung gestraft. Ich wollte ihn zerstören, um wieder frei zu sein. Mein Kampf gegen ihn ist heute nicht mehr so heftig, und doch bin ich weit davon entfernt, ihn mit all seinen Bedürfnissen anzunehmen und sogar zu lieben. Mir wird gerade bewusst, dass ich ihn auch heute noch zum Teil hasse – für die Empfindungen, die er mir beschert: für Kälte, Hitze, Ekel, Scham, Schmerzen und Angst. Ich hasse ihn für die Gefühle, die entsetzliche Bilder in mir wachrufen. Es sind Bilder von sexuellen und rituellen Handlungen, von Männern in schwarzen Kapuzenroben, die um einen Tisch stehen, auf dem ein kleines Mädchen festgeschnallt ist und mit unterschiedlichen Dingen malträtiert wird. Bilder, die ich bis heute nicht in meiner Biografie einordnen, geschweige denn mit Sicherheit sagen kann, dass mir selbst das passiert ist oder vielleicht doch nur meiner Fantasie entspringt. Und doch sind diese Bilder und Gefühle in mir so sehr lebendig, dass sie mein Leben aus dem Unterbewusstsein heraus folgendermaßen stark beeinflussen.
- Mein Körper fühlt sich meistens schmutzig an. Dieser Schmutz ist durch Seife nur für kurze Zeit zu beseitigen. Er ist scheinbar in jede Zelle eingebrannt. Und es ist, als fließe das Böse durch meine Adern in jede einzelne Zelle.
- Die weibliche Körperform stellt eine Gefahr für mögliche Übergriffe dar. Vielleicht passierten die Übergriffe in der Vergangenheit aus anderen Gründen. Trotzdem ist es mein Körper, der die Erinnerungen daran in sich trägt und mich heute in völlig harmlosen Situationen vor dieser Gefahr „warnt“.
- Mit Rock oder Kleid bekleidet, fühle ich mich schutzlos und wie „Freiwild“. Jeder, der es wollte, könnte mir zwischen die Beine greifen und sich abreagieren. Selbstverteidigungstechniken könnten vielleicht Abhilfe schaffen, werden jedoch von einer inneren Instanz in mir nicht erlaubt. Also trage ich ausschließlich Hosen, um nicht zu weiblich zu erscheinen und mich wenigstens unten herum zu schützen. Dabei gibt es soooo schöne Kleider. Seufz… Und ist es nicht wichtig, als Weib die Weiblichkeit auch zu leben? Dazu zählt für mich unter anderem das äußere Erscheinungsbild. In diesem Punkt stehe ich oft in einem innerem Konflikt.
- Körperliche Gesundheit ist mir extrem wichtig. Wenn ich gesund bin, brauche ich keinen Arzt. Nur ich selbst bestimme über meinen Körper. Niemals wieder darf da irgendwer etwas einführen, injizieren oder gar herausnehmen.
- Termine bei Zahnarzt und Gynäkologe sind mit großer Angst verbunden und werden weitestgehend vermieden. Allein schon dieser Stuhl, auf dem die Untersuchung stattfindet, ist gruselig und löst Angst aus. Von den Dingen, die während einer Untersuchung oder Behandlung ablaufen, will ich hier gar nicht erst schreiben.
- Berühren mich andere im Intimbereich, löst das starke Schamgefühle aus und lässt mich innerlich erstarren. Sexualität läuft demnach eher einseitig ab. Ich nehme den aktiven Part ein, kontrolliere so das Geschehen und kann mich selbst heraushalten.
- Ich versuche ohnehin, möglichst immer die Kontrolle in meinem Leben zu behalten. Bloß keine Machtlosigkeit zulassen. Spontane Aktivitäten verunsichern mich. Flexibilität übe ich noch.
- Bewegungsarten, die ein hohes Maß an Körpergefühl bedürfen, wie Tanzen, Kampfkunst, Yoga, Qi Gong etc. sind für mich nicht praktikabel. Zu viel Hinspüren. Wenn ich Sport machen würde, wäre es Joggen oder vielleicht noch Kraftsport.
- Im Jugendalter quälte mein Körper mich mit Neurodermitis. Heute weiß ich, dass sie jedes Mal dann wieder auftritt, wenn etwas Unangenehmes (ein Mensch oder ein Thema) mir so sehr nahe kommt, dass eine innere Grenze überschritten wird. Meist ist damit die Angst vor möglichen Verlusten wichtiger Sicherheitsaspekte in meinem Leben verbunden. Dabei ist es egal, ob ich selbst oder andere meine Grenze verletzen. Das Symptom ist jedes Mal ein belastender, juckender Hautausschlag, der deutlich sagt: „Komme mir nicht zu nah! Berühre mich nicht! Schaue mich nicht an! Wende dich ab!“
So wie der Hautausschlag sind alle anderen auftretenden Körpersymptome ebenfalls Signale, die mir etwas zeigen wollen. Und ich tue meinem Körper Unrecht, wenn ich ihn dafür ablehne und bestrafe. Vielmehr gebührt ihm mein Dank dafür, dass er mich auf blockierte Bereiche in meinem Denken, in meinen Glaubenssätzen, in meinem Weltbild und in meinem Handeln hinweist.
Erst durch ihn ist mir dieses Leben hier auf der Erde überhaupt möglich. Mit ihm kann ich kreativ erschaffen – Töne, Melodien, Worte, diesen Text, Zeichnungen, Handarbeiten, Aussäen, Pflegen und Ernten, Essen zubereiten, mit allen Sinnen genießen, andere Lebewesen berühren und noch ganz viel mehr. Dieser Körper ist ein wahres Wunderwerk, das sich selbst heilt, wenn man ihm die erforderlichen Bedingungen dafür schafft.
An Stelle von Ablehnung, Strafen und Begrenzungen sollte ich ihn ehren, seinen Signalen Raum geben und seine Bedürfnisse erfüllen. Und wenn ich leise in ihn hinein lausche, höre ich vielleicht sogar seine ganz eigene Melodie.
Mein Körper ist nun seit 46 Jahren an meiner Seite, hat all die schlimmen Zeiten mit mir ertragen und mich dabei nie im Stich gelassen. Er fand immer einen Weg, am Leben zu bleiben. Er ist ein lebendiges Wesen, das mir mit seinen Reaktionen die Bereiche in mir spiegelt, wo noch ungelöste Blockaden sind.
Wenn ich mich im Spiegel betrachte und hasse, was ich dort sehe, hilft es nicht, wenn ich den Spiegel zerschlage. Mein Körper ist ein Resonanzkörper, der mit meinen energetischen Schwingungen interagiert. So, wie der Spiegel mein Bild von mir spiegelt. Was ich energetisch aussende, bekomme ich auf materieller Ebene zurück. Mein Körper zeigt mir mit großer Ausdauer und Geduld, wie ich in der Welt wirke. Erst mit leisen Anzeichen und dann, wenn ich nicht darauf reagiere, mit immer stärkeren. Mein Körper ist nicht mein Feind sondern wie ein Freund, der mich geduldig durchs Leben begleitet. Wenn es ihm gutgehen soll, muss ich dafür sorgen, dass es ihm gutgehen kann. Wie so oft im Leben trage ich auch hier die Verantwortung dafür. Der Weg ist also, mit ihm genauso liebevoll wie mit anderen Lebewesen, die mir am Herzen liegen, umzugehen.
„Und wenn dein Körper dir wieder diese entsetzlichen Bilder und Gefühle präsentiert, nimm dich selbst einfach mal in den Arm. Egal, ob dir selbst diese schlimmen Sachen widerfahren sind oder nicht, nimm das kleine gequälte Mädchen in den Arm, halte sie liebevoll und zeige ihr, dass deine Welt heute friedlich und sicher ist. Denn das ist sie seit vielen Jahren.“
****
Foto: Pixabay, Prettysleepy (https://pixabay.com/de/illustrations/damen-benutzerbild-zwillinge-5639492/)