Vor wenigen Tagen sah ich einen Kurzfilm von Nina Mielitz, der mir wieder einmal sehr eindrücklich vor Augen geführt hat, dass ich im Grunde nichts weiß über die Menschen, denen ich begegne; nichts darüber, was sie fühlen und denken und noch viel weniger über das Leben, das sie führen. Stattdessen orientiere ich mich an Vorurteilen, die ich mir aufgrund meiner eigenen inneren und äußeren Wahrnehmung gebildet habe.
Ich schaue die Menschen an, höre, wie und was sie sprechen und habe -zack!- ein Bild von ihnen, wie sie sind, wer sie sind und was sie in ihrem Leben vielleicht anders machen könnten. Um z.B. glücklicher und gesünder zu sein. Aber was weiß ich schon? – Ich weiß gar nichts!
Ich weiß nichts von dem, was andere Menschen wirklich innerlich bewegt; was sie in dem Moment, in dem wir uns begegnen, gerade denken und fühlen. Ich weiß nichts von ihrer Vergangenheit, ihrem Lebensweg, von ihren Träumen und Wünschen.
Und trotzdem ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich von mir auf andere schließe und meine, zu wissen, warum sie sich so und so verhalten und was sie vielleicht ändern könnten oder was ihnen gut täte.
Und selbst wenn ich glaube, einen Menschen zu kennen, weil ich einen Teil meines Lebens mit ihm teile, so weiß ich doch auch nur das, was er mir offenbart. Das kann ehrlich und aus der Seele gesprochen sein oder auch nur eine Geschichte, die dieser Mensch zu seinem Schutz erzählt. Wir erzählen uns ständig irgendwelche Geschichten. Geschichten, warum wir dieses oder jenes machen müssen oder nicht verändern können; warum es uns schlecht geht; warum wir sind, wie wir sind… und so weiter. Wir schmücken aus, übertreiben, dramatisieren und finden Schuldige. Oder wir machen das Gegenteil und verleugnen, verharmlosen und machen uns klein.
Zu diesen Informationen, die ich vom anderen also mittels Körpersprache, Worten oder Handlungen erhalte, mische ich automatisch meine eigenen Werte, Vorstellungen und Erfahrungen und erstelle daraus mein Bild von diesem Menschen. Und reagiere daraufhin möglicherweise mit gewissen Vorbehalten.
Ich urteile über diesen Menschen, obwohl ich nichts wirklich von ihm weiß. Auch dann nicht, wenn ich glaube, ihn zu kennen.
Und ganz nebenbei gefragt:
Wer ist überhaupt berechtigt, darüber zu urteilen, was ehrlich gesprochen und was eine „Geschichte“ ist? Wer entscheidet, was wahr ist und was nicht? Das kann doch eigentlich nur jeder einzelne für sich und in sich erkennen. Niemand sonst. Wir alle nehmen und halten das für wahr, was wir selbst wahrnehmen, was wir gelernt haben und woran wir glauben wollen. Ich sehe und höre daher beim anderen in erster Linie das, was ich selbst erlebt habe, was ich glauben will oder was ich mir vorstellen kann. Nur das nehme ich wahr – und halte es für die Wahrheit. Es ist meine Wahrnehmung und meine Wahrheit. Die des anderen wird möglicherweise stark davon abweichen.
Mir selbst steht es demnach in keiner Weise zu, über andere Menschen zu urteilen. Es sei denn, ich könnte mich auf eine Art mit ihnen verbinden, in der ich durch ihre Augen sehen und mit ihren Körper fühlen könnte. Das gelingt aber vielleicht nur dann, wenn mein Ego und damit die Trennung von meinem Ich zum anderen Ich nicht mehr aktiv ist. Es wäre ein Zustand tiefster Verbundenheit und bedingungsloser Liebe. Erst dann könnte ich vollständig fühlen, was der andere fühlt; sehen, was der andere sieht; hören, was der andere hört und erkennen, was der andere erkennt. Urteilen ist in diesem Zustand übrigens gar nicht mehr möglich. Dann bleibt nämlich kein Grund mehr, den anderen zu be- oder verurteilen. Es entsteht stattdessen ein umfassendes Verständnis, in dem sich gut und schlecht zu einem schlichten ES IST verwandeln. Ohne jegliche Wertung.
Noch aufwühlender als dass ich dem anderen seine eigene Wahrheit abspreche, empfinde ich gerade die Erkenntnis, dass ich ihn durch meine vorverurteilende Haltung auch noch in eine Richtung beeinflusse, die mich am Ende dann sogar in meinem Vorurteil bestätigt. Durch meine Gedanken und Gefühle erzeuge ich eine bestimmte Körperhaltung und Mimik und meine Worte bzw. Laute verstärken diese dann noch. Das kann jeder an sich selbst beobachten. Wenn ich an etwas Schönes denke und mich freue, ist meine Körpersprache freundlich, entspannt und offen. Bei negativen, belastenden Erinnerungen oder Vorstellungen dagegen zieht sich etwas im Körper zusammen. Wir wirken dann verschlossen, abwehrend und feindlich. Wir alle kennen unsere Reaktionen auf Zuwendung oder Ablehnung. Wie wird der andere wohl reagieren, wenn ich ihm unfreundlich begegne? Nur wenige werden darauf mit einem Lächeln antworten.
Und selbst wenn ich völlig regungslos da stände, reichten meine innerlich erzeugten Energien in Form von Gedanken und Gefühlen aus, um dem anderen eindeutige Signale der Ablehnung oder Zuwendung zu senden. Das Aussenden dieser Energien kann ich gar nicht zurückhalten. Genauso wenig wie ich das Empfangen von Signalen nicht ausschalten kann. Wie wichtig ist es daher, meine eigenen Gedanken und Gefühle auf einem friedlichen Level zu halten und dem anderen im ersten Schritt freundlich zu begegnen?
Denn … was weiß ich schon von ihm?
Bevor ich also demnächst wieder jemanden mit einem Vorurteil etikettiere, könnte ich ihn ansprechen, mich mit ihm austauschen und versuchen, die Beweggründe für sein Verhalten zu verstehen. Und wenn kein Gespräch möglich ist, lasse ich die Situation mit diesem Menschen einfach los. Lasse sie ohne weitere Innen-Kommentare oder Augenrollen an mir vorbeiziehen. Denn keine meiner Interpretationen, Bewertungen oder Urteile können jemals das beschreiben, was wirklich im anderen abläuft.
„Äh ja, ganz einfach….“
Ok, ohne Innen-Kommentare ist schwierig. Aber wenigstens kann ich im Innen um eine friedlich-freundliche Egal-Haltung bitten. Jupp, das wird wohl gehen. 🙂
Für ein friedliches Miteinander in mir und auch in meinem Umfeld.
♥♥♥
Schaue dir diesen berührenden Film an und spüre in dich hinein! Was fühlst du?
„Ein Film über Vorurteile. Ein Film zum Nachdenken. Basierend auf dem Poetry Slam Text von Anke Fuchs.“ (Nina Mielitz, YouTube 2015)
Titelfoto: Pixabay, Graehawk (https://pixabay.com/de/allein-traurig-depression-2666433/)