Seit in paar Tagen stecke ich bis zum Hals in einem Fass mit der Aufschrift „Verdorben“. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich ein rundum schlechter Mensch bin. Dass das so nicht stimmt, wird im Innen völlig ignoriert. Stattdessen Selbstvorwürfe über Selbstvorwürfe:
„Ich bin jemand, der immer nur nimmt, aber nicht genug gibt. Das ist egoistisch und undankbar. Ich bin unehrlich, manipulativ und nachtragend. Ich verallgemeinere, bewerte und grenze aus. Und ich gebe Menschen, die ich einmal aus meinem internen Kontaktverzeichnis gestrichen habe, keine Chance mehr, darin wieder aufgenommen zu werden. Ich halte alle auf Abstand.“ Und der schlimmste Gedanke ist: „Ich bin nicht anders als die Menschen, die ich für ihr Verhalten verurteile und ablehne. Ich verhalte mich genauso grenzüberschreitend, fordernd, wertend und un-empathisch. Kein Wunder, dass ich allein und unglücklich bin.“ Das Urteil, das dieses Ich über sich bzw. mich fällt, ist niederschmetternd.
Ich selbst weiß, dass ich kein schlechter Mensch bin. Ich helfe Menschen und Tieren, habe ein offenes Ohr für andere, entschuldige verletzendes Verhalten und ich kann auch manchmal Mitgefühl zeigen. Nur eben nicht bei allen Menschen, die sich dies vielleicht von mir wünschen. Wie bei allem im Leben gibt es auch hier Abstufungen. Ich muss nicht alles verstehen, entschuldigen, mitfühlen oder mitmachen. Auch wenn mein Idealismus in Form von sich dem Leben völlig öffnen und hingeben, vertrauen und bedingungslos lieben etwas ganz anderes anstrebt.
Sobald ich versuche, mein Leben in dieses Ideal zu pressen, wird es im Innen laut. Mehrere Ichs fühlen sich ignoriert, abgeschoben, ausgeliefert und verletzt. Es ist vergleichbar mit jemandem, der sein Leben lang Hunger leidet und nun in einem Restaurant Speisen servieren soll. Was wird dieser Mensch dabei wohl empfinden? Liebe und Hingabe sicherlich nicht. Zumindest nicht, solange sein Hunger nicht gestillt ist.
Ist es okay, wenn ich mich also erst einmal um mich selbst und die Ichs in meinem Inneren kümmere? Darf ich das? Und darf ich trotzdem von anderen Menschen Hilfe und Geschenke annehmen? Auch dann, wenn ich erst mal nichts zurückgeben kann?
Diese Fragen kollidieren klar mit einem „inneren Gebot“, das besagt: „Du bist auf dieser Welt, um anderen zu dienen. Es ist deine Pflicht, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. Und wage es nicht, deine Stimme zu erheben und eigene Wünsche vorzutragen. Dieses Privileg musst du dir erst verdienen.“
Gruselig. Woher kommt so ein Glaubenssatz?
Ich glaube schon auch, dass ich lebe, um zu dienen. Aber aus einer ganz anderen Intention heraus. Es ist ein Dienen aus Liebe – ein Geschenk an das Leben, die Schöpfung und damit auch an mich selbst. Es sollte kein Dienen aus Zwang und Angst sein, um mir mein Lebensrecht zu verdienen oder irgendeine Schuld abzuarbeiten.
Und trotzdem: Dieses „Ich-bin-schlecht“-Gefühl ist immer irgendwo im Hintergrund aktiv. Und insbesondere meine Zurückhaltung bei sozialen Kontakten fördert ein permanentes schlechtes Gewissen. Weil ich mich nicht bei Freunden, Bekannten und Familienangehörigen melde und sie auch nicht besuche – obwohl sie es sich wünschen, und zum Teil räumlich auch noch fast um die Ecke wohnen. Beim Gedanken an Familienkontakte und -besuche wird es in mir besonders eng. Nach solchen Kontakten fühle ich mich sehr oft schlecht und muss ein inneres Chaos ordnen oder befinde mich im schlimmsten Fall in einer emotionalen Notlage.
Es heißt ja immer: Familie ist ein hohes Gut und man soll sich glücklich schätzen, wenn man eine hat. Für mich ist Familie aber ein rotes Tuch. Die Beziehungen untereinander sind löchrig und mit zahlreichen Falltüren bestückt. Und es fehlt emotionale Wärme. Der Zusammenhalt, falls ein solcher besteht, beruht überwiegend auf Schuldgefühlen und gegenseitiger Abhängigkeit. Ich habe mich größtenteils aus der Familie zurückgezogen, weil ich mich nicht gesehen, verstanden und gehalten fühle. Ich spüre keine Liebe in mir, wenn ich an Familie denke. Nicht einmal einen Funken davon.
Familien-Treffen gleichen Maskenbällen, auf denen niemand wirklich zeigt, wer er ist und wie es ihm geht.
Ich möchte kein Maskenträger mehr sein. Ich möchte mich selbst nicht länger verleugnen, indem ich mich für andere verbiege und anpasse; und um ihnen zu „dienen“, damit sie sich besser fühlen. Bei jedem Kontakt werden Erinnerungen und alte Verhaltensmuster aktiviert, die im Innen kommentiert, analysiert, verurteilt und im schlimmsten Fall bestraft werden. Um dem zu entgehen, meide ich seit einiger Zeit Kontakte zur Familie.
Ich frage mich oft, ob meine Wahrnehmung die Familie betreffend vielleicht einfach nur gestört ist; ob ich das alles völlig falsch sehe und nur noch mehr an mir arbeiten müsste. Damit ich irgendwie wieder ins Bild passe, gemocht werde, dazu gehöre und mich in der Familie nützlich machen kann. Zudem heißt es doch auch: Familie verpflichtet! In einer Familie ist man füreinander da, hilft und unterstützt.
Wie kann ich es also wagen, mich aus der Familie zurückzuziehen und Verwandte trotz Hilfebedarf im Stich zu lassen?
An diesem Punkt falle ich immer wieder in den Schuld-Topf. Die Erwartungen von Familie und Gesellschaft sind mit mir und meinen Bedürfnissen schon seit längerem nicht vereinbar. Und ich fühle mich schuldig, weil ich diesen Erwartungen und Wünschen nicht entspreche. Dabei möchte ich doch einfach nur so gemocht werden, wie ich bin. Ich möchte zeigen dürfen, wie ich mich fühle; sagen dürfen, was mir auf dem Herzen liegt; und mein Leben so gestalten dürfen, wie ich es gerade als richtig empfinde. All das, ohne von anderen als krank, gestört, peinlich, egoistisch, überheblich oder sonst wie betitelt zu werden. – Ihr da in mir drin, habt ihr diese Worte gehört? Ja? Sind sie auch bei euch angekommen? Das gilt nämlich für Innen und Außen gleichermaßen. –
Nur leider weiß ich oftmals selbst gar nicht, wie ich mich fühle, wer ich eigentlich bin und wohin mein Weg gehen soll. Nun bin ich auf dem Weg, um mich selbst zu finden – und fühle mich dabei schuldig ohne Ende.
Schuldig, …
Schuldig, weil ich bestimmten Menschen nicht helfe oder den Kontakt nicht halte, obwohl sie sich das wünschen.
Schuldig, weil ich in der Vergangenheit andere Menschen durch mein Verhalten verletzt habe.
Schuldig, weil ich in der Vergangenheit mir selbst und meinem Körper geschadet habe und diesen auch heute noch ablehne.
Schuldig, weil ich Hilfe und Geschenke annehme und nicht genug zurückgebe – vor allem nicht denen, die mir gegeben haben.
Schuldig, weil ich mich von der Familie abgewendet habe.
Schuldig, weil ich meine Kräfte schone, anstatt mich für andere Menschen zu opfern.
Schuldig, weil ich andere Menschen vorverurteile, sie in Schubladen stecke und schlecht über sie denke.
Schuldig, weil meine Gedanken und mein Verhalten anderen Menschen peinlich sind.
Schuldig, weil ich mich nicht in die deutsche Gesellschaftsnorm einfüge, obwohl ich von Steuer-geldern lebe, für die andere hart gearbeitet haben.
Schuldig, weil ich zu wenig meine persönliche Komfortzone verlasse, um meine Fähigkeiten und Talente zu entdecken.
Schuldig, weil ich nicht achtsam genug bin und dadurch die Grenzen anderer Menschen verletze.
Schuldig, weil ich meine, immer alles besser zu wissen – obwohl ich im Grunde gar nichts weiß.
Schuldig, schuldig, schuldig …
Kann ich diese Schuld jemals abbauen? Ich habe das Gefühl, dass mit jedem Tag meines Lebens eher neue Schuld hinzukommt.
Bitte, macht einfach einen Deckel auf das „Verdorben“-Fass und rollt es mitsamt mir tief in einen Berg hinein. So tief wie es geht, damit nichts davon an die Oberfläche strahlen kann.
Okay, das ist jetzt wohl keine geeignete Lösung, entspricht aber ziemlich genau dem Wunsch, einfach von der Bildfläche verschwinden zu wollen. Diese Schuld hängt wie Pech an mir.
Ich traue mich kaum noch irgendetwas anzunehmen, weil ich immer gleich mit Forderungen oder Erwartungen von der Geber-Seite her rechne. Egal, ob diese laut ausgesprochen werden oder nicht. Das Schuldgefühl ist trotzdem da. „Gibst du mir, so gebe ich dir.“ Sobald ich etwas annehme, stehe ich in dessen Schuld. Aber stimmt das auch?
Stehe ich in jemandes Schuld, nur weil dieser mir etwas gegeben hat? Bin ich verpflichtet, diese Schuld 1:1 auszugleichen und dabei die Wünsche und Forderungen des Gebers zu erfüllen? Darf ich selbst entscheiden, ob, wann und wem ich etwas zurückgebe oder verstoße ich dann gegen irgendein moralisches Gesetz?
In wessen Schuld stehe ich wirklich?
Wenn ich heute jemandem helfe, Kontakte pflege oder auch mal ohne Anlass eine kleine Aufmerksamkeit versende, mache ich das, weil ich es aus dem Herzen heraus und mit Freude tue. Auf keinen Fall mache ich es, um daraus einen Vorteil für mich zu ziehen, oder weil ich diesem Jemand einen Gefallen schulde. Und ich erwarte vom anderen auch keine Gegenleistung. Außer es wurde etwas Anderes vereinbart.
Früher habe ich mich ständig verbogen und Dinge gemacht, die ich nicht machen wollte. Weil ich dazugehören, anerkannt und geliebt werden wollte. Das hat sich aber immer schmutzig und unehrlich angefühlt. Heute verzichte ich lieber und lebe mit wenig, als mich verbiegen zu müssen und gegen meine Werte zu handeln.
Oft denke ich, dass ich viel zu wenig gebe im Vergleich zu dem, was ich in meinem Leben bisher schon bekommen habe. Viel zu wenig, wenn es nach meiner Vorstellung von dankbar sein geht. Bis auf gewisse emotionale Dinge hat es mir in meinem Leben wirklich an nichts gefehlt. Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung, Sport, Hobbys, Reisen – alles wurde mir ermöglicht, obwohl ich im Umgang nicht immer einfach war. Ich fühle mich in der Schuld, etwas zurückgeben und auch etwas wieder gut machen zu müssen. Es ist mir ein Bedürfnis, einen Ausgleich dazu zu schaffen. Und ich gebe, was ich geben kann. Nur eben nicht genug und vor allem nicht denen, die mir gegeben haben.
Ich nehme von einem und gebe dann aber oftmals einem anderen. Für mich ist Nehmen und Geben ein Kreislauf und kein Hin und Her. Das sehen einige in meinem Umfeld jedoch anders. Sie erwarten von mir etwas zurück, was ich aber nicht geben kann oder nicht geben möchte. Wenn von mir dann nichts kommt, sind sie enttäuscht. Dann bekomme ich die Rote Karte, weil ich meine Schuld beim anderen nicht begleiche! Ich komme aus dem In-der-Schuld-Stehen gar nicht mehr heraus. Es sei denn, ich spiele das Spiel des Anderen und nicht mein eigenes.
Es wäre so wichtig, dass die Menschen aus dieser Erwartungshaltung herauskommen und dass jeder lernt, bei sich zu bleiben, und nicht andere für seine Gefühle und die Lebenssituation verantwortlich zu machen. Ich bin nur für mein Leben und das meiner Hündin verantwortlich. Ich bin nicht schuld, wenn es bei anderen schlecht läuft oder wenn sich jemand schlecht fühlt! Ich weiß das. Nur leider nicht alle Ichs in mir. Bei einigen ist es quasi die Lebensaufgabe, alle Schuld auf sich zu nehmen und sich immer wieder die Rote Karte mit Platzverweis abzuholen.
Generell bin ich schon jemand, der gerne hilft. Vorausgesetzt, dass ich selbst gerade dazu in der Lage bin. Ich kann nur das geben, wozu ich selbst in mir einen Zugang habe. Aktuell ist das nicht besonders viel Gutes.
Aktuell überwiegt in mir Trotz und Wut und Trauer und eben diese Schuld. Ich bin einfach nicht in der Lage, Höflichkeit, Geduld und Liebe aufzubringen. Nicht für mich und auch nicht für andere.
Bin ich deswegen ein schlechter Mensch? Bin ich undankbar, weil ich mich gerade mehr um mich und weniger um andere Menschen kümmere? Ich habe das Gefühl, dass ich es momentan niemandem recht machen kann. Das ist so tief ins Unterbewusstsein geschrieben, dass es mich sogar in meine Träume verfolgt.
Ich werde das Gefühl des Schuldig-Seins vielleicht nur lösen können, indem ich mich selbst annehme – mit der Wut, mit dem Trotz, der Trauer, den Schuldgefühlen und Vorwürfen. Und mich mit all dem in mir liebevoll umarme und mir selbst das Mitgefühl schenke, das sich andere von mir wünschen. – „Ja, ja. Das mit der Liebe und dem Umarmen üben wir noch.“
„Ja, genau. Und irgendwann werde ich so weit sein, dass ich dieses Mitgefühl auch den Menschen schenken kann, die es mir einst verwehrten.“
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